Reallabor Radbahn – eine Verbindung zwischen Mensch und Stadt
von Johanna Schelle
Die Idee hinter Reallabor Radbahn ist es, dem Betonstreifen unter dem denkmalgeschützten Hochbahn-Viadukt auf der Strecke Oberbaumbrücke bis Bahnhof Zoo in Berlin neues Leben einzuhauchen. Die Macher des Projekts sehen die dringende Notwendigkeit an dieser Stelle auf insgesamt 9 km zwischen den Stadtteilen Schöneberg, Kreuzberg und Friedrichshain mit dem Projekt Radbahn Berlin einen besseren öffentlichen Raum zu erschaffen und damit einen Beitrag zu einer umwelt- und menschengerechten und dadurch lebenswerteren Stadt zu leisten. Bis Sommer 2022 entsteht mit dem „Reallabor“ ein physischer Prototyp dieses Projekts: ein 200 Meter langes Testfeld, mit dem die zukünftige Radbahn bewusst erkundet und auf spielerische Weise ausprobiert werden kann.
Placemaking ≠ Gentrifizierung
Dem Reallabor Radbahn ähnliche Vorhaben, etwa die Begegnungszone im Berliner Bergmannkiez oder die High Line im New Yorker Meatpacking District, wurden oft Gentrifizierungspraktiken vorgeworfen[1][2], da sich Szeneviertel entwickelten und Anwohnende ungenügend am Prozess beteiligt wurden. Die Macher des Reallabors Radbahn streben zwar ebenfalls eine Aufwertung eines brachliegenden urbanen Raums an, durch aktive Beteiligungsformate und die Gründung eines interdisziplinären Projektbeirats soll allerdings verhindert werden, dass diese Aufwertung mit einer soziokulturellen Umwertung des ursprünglichen Kiez-Charakters rund um die Testfeld-Location und einem Verlust der dortigen sozialräumlichen Identität einhergeht.
Ziel des Reallabors ist es, einen zugänglichen Stadtraum zu erschaffen, an dem Menschen miteinander interagieren können. Das heutige urbane Leben ist geprägt durch Anonymität und Isolation. Im öffentlichen Raum wird oft das Smartphone zum treuen Begleiter; der Blick mit wem dieser Raum eigentlich gerade geteilt wird geht verloren. Mit dem Reallabor Radbahn wird ein lebendiges Stadtprojekt im Werden realisiert, das das Gefühl fördert, gemeinsam in einer Stadt zu leben und diese eben auch gemeinsam zu gestalten. Die Prämisse des Miteinander Stadt machen bestimmt das Vorgehen des Projekts. Man will frühzeitig einen konstruktiven Dialog zwischen unterschiedlichen Interessengruppen fördern, verschiedene Blickwinkel einfangen sowie den möglichen Transformationsprozess neu denken.
Dabei identifiziert sich Reallabor Radbahn als Placemaking-Projekt, das einen eigenen lokalen Ansatz entwickelt, um soziale Kohäsion zu wahren. Das Team ist überzeugt, dass öffentliche Räume von der Gemeinschaft, die sie nutzt, inspiriert und kultiviert werden. Egal ob Alteingesessene oder Zugezogene, jeder kann und soll bei der Gestaltung des öffentlichen Raums vor der eigenen Haustür eine Rolle spielen. Reallabor Radbahn bietet mit dem Bau eines Testfelds deshalb ein Instrument, das Anwohnende nicht nur mit den physischen Veränderungen im Kiez, sondern auch untereinander verbindet und das Gefühl von Gemeinschaftseigentum unterstreicht.
Fahrradrenaissance in Berlin
Seit Sommer 2018 hat Berlin ein geltendes Mobilitätsgesetz, das das Ende der autoprivilegierten[3] [sic!] Stadt einläuten soll, die Berlin so lange war. Die Leistungsfähigkeit des gesamten Verkehrssystems soll fortan verbessert werden, wobei der Umweltverbund, also Fuß-, Rad- und öffentlicher Nahverkehr, Vorrang hat. Soweit die Theorie, denn bisher gleicht das Gesetz eher einem Papiertiger, der aufgrund fehlender Prozesse und Verfahren nur sehr schleppend vorankommt.
18 Prozent aller Strecken werden von Berliner*innen heute bereits mit dem Fahrrad zurückgelegt[4], fünf Prozentpunkte mehr als noch im Vorjahr. Man sollte meinen, dass Senat und Verwaltung dieser gewachsenen Nachfrage schneller nachkommen würden. Doch auch hier wird seit Anfang der Corona-Krise plötzlich aufs Gas gedrückt und umgesetzt. Mutige Initiativen wie die inzwischen allseits bekannten Pop-up Radwege gleichen fast schon der im Mobilitätsgesetz vorgesehenen Verkehrsrevolution, verbessern die Wahrnehmung des Fahrrads und tragen zu einem Anstieg der Fahrradfahrer im Stadtverkehr bei.
Laut Andreas Knie, Mobilitätsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin, könnte ein Radverkehrsanteil von bis zu 40 Prozent geschaffen werden[5], nur eine fehlende gute Infrastruktur verhindert das bisher. Was für ein Glück, dass ein Grundgerüst dieser fehlenden Verkehrsanlage eigentlich schon vor mehr als 100 Jahren gebaut wurde: die Hochbahnanlage der Berliner U-Bahn-Linie U1.
Die Radbahn als Entwurf einer lebenswerten Stadt
Das Projekt zielt auf die Entwicklung eines qualitativ hochwertigen Stadtraums und das Konzept einer ökomobilen Stadt ab. Dabei distanziert sich die Radbahn von dem Begriff Radschnellweg und dem Image „nur“ ein Radweg zu sein, sondern stützt sich auf einen bewussten Umgang mit bestehenden Stadträumen- und Ressourcen und den Ansatz, Verkehrsräume sozial und multifunktional zu denken. Beispielsweise werden die Spezifika der umliegenden Quartiere und Öffnungen, wie Straßenkreuzungen oder Seitenstraßen, mitgedacht und die Überlegung angestellt, was dort alles sein könnte: Erfrischungsstationen, Reparatur-Möglichkeiten, Fahrradampeln und Leitsysteme sorgen für einen besseren Schwung, während der Einbau regenerativer, kinetischer Energiequellen einen Teil der Energienachfrage der Strecke decken könnte und das Nachhaltigkeitsparadigma des Projekts erfüllt: Das Verkehrswachstum und seine Umwelteinwirkungen so zu begrenzen, dass eine dauerhafte umweltgerechte Mobilität sichergestellt werden kann.
Wurde das Vorhaben anfangs kopfschüttelnd von der Senatsverwaltung als utopisch erklärt, erhielt das Reallabor Radbahn 2019 im Rahmen des Bundesprogramms „Nationale Projekte des Städtebaus“ eine Förderzusage vom Bund und Land Berlin. Damit soll ein Beitrag zum Vorhaben, eine lebenswerte Stadt der Zukunft zu konzipieren, geleistet werden und dieser in einem partizipativen Testfeld im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg veranschaulicht werden. Zuvor wurde der Masterplan sowie die Qualitäten des Gesamtkonzepts Radbahn in Form eines über Crowdfunding finanzierten Buches der Öffentlichkeit vorgestellt. Dabei ging man explizit auf architektonische und stadtplanerische Problempunkte, wie beispielsweise Kreuzungen, Sicherheit und Kosten, ein. Das Fazit war eindeutig: die Radbahn ist machbar und bezahlbar.
Probieren geht über studieren
Seitens des Senats wurde eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, um ein Teilstück der insgesamt 9 km langen Radbahn zwischen Kottbusser Tor und Schlesischem Tor auf verkehrsplanerische und verkehrstechnische Umsetzbarkeit zu prüfen. Das Reallabor Radbahn wird diese bis nächstes Jahr um eine Potenzialstudie ergänzen, die weniger von bautechnischer Natur ist, sondern Themen in Bezug auf Stadtraum, sozialräumliche Auswirkungen von Verkehr und Innovationen, Übertragbarkeit, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit hin untersucht. Diese neue Studie ist dabei im Grunde eine Weiterentwicklung der im Radbahn-Buch formulierten Konzepte, die näher auf Details eingeht. Diese reichen von regenerativen Energien, über Biodiversität bis hin zur Ampelschaltung oder Beleuchtung der Strecke. Das Reallabor Radbahn ist somit, bildlich gesprochen, die Lupenansicht eines Teilabschnitts der Radbahn.
Diese Ergebnisse sind Grundlage für die Einrichtung des Reallabor Radbahn, dem 200 Meter langen physischen Prototyp der Studie. Unterschiedliche Bodenbeläge, Akustik-Tunnel, Signalanlagen oder Pausensituationen sind nur ein paar Beispiele, die dabei wortwörtlich erfahren werden können.
Was lange eine Vision war, ein Stadttraum sozusagen, manifestiert sich gerade. Nach fünf Jahren Co-Working, Café-Hopping und Couch-Surfing gibt es endlich ein eigenes Büro und ein vergrößertes Team, das in den nächsten drei Jahren richtig durchstarten wird, um ein Leuchtturmprojekt für das Radfahren und nachhaltige Räume zu entwerfen.
[1] Bauwelt (18/2018). Investment an der High Line. https://www.bauwelt.de/themen/betrifft/High-Line-New-York-3227055.html
[2] Tagesspiegel (26.07.2019). Bürger*innen, hier werdet ihr begegnet! https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/zoff-um-die-bergmannstrasse-buergerinnen-hier-werdet-ihr-begegnet/24700876.html
[3] Berlinboxx (2.7.2018). Mobilitätsgesetz und digitale Infrastruktur als Chance für Berlins Klima. https://www.berlinboxx.de/verabschiedetes-mobilitaetsgesetz-und-geplante-digitale-infrastruktur/
[4] Changing Cities (16.03.2020). Berlin heute: 5 Prozent mehr Rad, 4 Prozent weniger Auto. https://changing-cities.org/berlin-heute-5-prozent-mehr-rad-4-prozent-weniger-auto/
[5] Berliner Morgenpost (03.06.20209. Berlin erlebt den Fahrradboom. https://www.morgenpost.de/berlin/article229240732/Berlins-langer-Weg-zur-Fahrradstadt.html
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Bildquellen:
Bild 1 & 2: ©paper planes e.V.
Bild 3 & 4: ©Reindeer Rendering
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